Tagungsbericht: 20 Jahre Provenienzforschung

„Heute ist Krieg und da ich mitten drin bin, werde ich euch alles schildern…“

Die geraubten Briefe aus der ukrainischen Stadt Kamenez Podolsk 1941/42

Internationale Tagung im Technischen Museum Wien

23 und 24. Oktober 2018

Tagungsbericht von A. Oettingshausen (Praktikant_in am TMW)

Eröffnet wurde die Tagung am Technischen Museum in Wien von der Generaldirektorin Gabriele Zuna-Kratky, dem Ministerialrat Christoph Bazil und dem ukrainischen Botschafter Olexander Scherba. Die Tagung, ist sowohl Rückschau, als auch Bestandsaufnahme des bisherigen Restitutionsverlaufs der 1200 (nicht zugestellten) Briefe aus der westukrainischen Ortschaft Kamenez Podolsk.

Ebenso ist der zweitägige Austausch unterschiedlicher Aktuer_innen aus Provenienzforschung, Museumspraxis, Geschichts- und Sozialwissenschaften und einzelnen Nachkommen der ehemaligen Briefschreiber_innnen/Absender_innen, als Ausblick auf weitere und zukünftige Provenienzprojekte zu betrachten.

Die fünf Panels geben einen guten Überblick über die komplexen Themenfelder und zeigen die verschiedenen Perspektiven der Redner_innen und Gäste auf. Angefangen mit einer geografischen und geschichtlichen Einführung von Wolfgang Mueller (Universität Wien) zur „Ukraine während des Zweiten Weltkrieges“ und Andrij Kudrjatschenkos (Nationale Akademie der Wissenschaft der Ukraine, Kiew) Vortrag „der Holocaust im historischen Gedächtnis der Ukrainer“, spannte der Programmrahmen einen weiten thematischen Bogen. Vom Umgang mit Feldpostsammlungen im Allgemeinen, über Briefe als historische Quelle für Sozialforschung, bis hin zu konkreten Restitutionsbeispielen anhand der besagten Briefe aus dem TMW und Kleidung aus dem Weltmuseum Wien.

Restitutionsprozesse sind oft begleitet von langwierigen Recherchen, die nicht selten in der einen oder anderen Forschungssackgasse landen. Umso erfreulicher ist die Tatsache, dass in dem vorliegenden Rückgabe-Beispiel das Gegenteil der Fall ist. Die Vorträge von Mirko Herzog TM Wien) und Veit Didczuneit (Museum für Kommunikation Berlin) zeigten, dass es in Postmuseen und Post-Archiven zwar ein allgemeines Sammlungsinteresse an Brief-Korrespondenzen gab und gibt, der Forschungsfocus aber vielmehr auf die Briefmarken und Stempel gerichtet ist. In Berlin wird Feldpost seit den 2000 Jahren auch unter wissenschaftlichen Aspekten gesammelt und beforscht. Der Bestand des ehemaligen Postmuseums Wien verweist vor allem auf die besagten Briefe aus der Ukraine.

So berichteten Oliver Kühschelm (Universität Wien/ TM Wien) und Christian Klösch (TM Wien) über den damaligen Fund der Post aus Kamenez Podolsk und den Prozess der Restitution im Jahre 2009 an die Republik Ukraine. Die Vize-Direktorin des „Nationalmuseum der Geschichte der Ukraine in Zweiten Weltkrieg“ in Kiew, Ljubow W. Legasowa, beschrieb den weiteren Verlauf der Forschung vor Ort und berichtete, dass bis dato die Hälfte der in der NS-Zeit geraubten Briefe an Nachfahren restituiert werden konnten.

Welche vielschichtigen Bedeutungen Schriftstücke für eine sozialhistorische Analyse darstellen, machten Walter Manoschek (Universität Wien) und Angelika Brechelmacher (Alpen Adria Universität Klagenfurt/Wien) am Beispiel von zwei sehr unterschiedlichen Absender_innen-Perspektiven deutlich. Während Walter Manoschek in die von Antisemitismus geprägten Mord und Rachegedanken in Briefen von NS-Täter_innen Einblick gewährte, berichtete Angelika Brechelmacher über „Postkarten aus dem Ghetto Litzmannstadt“ die von der jüdischen Bevölkerung verfasst wurden. Neben den Erkenntnissen zu privaten Beziehungen, gesellschaftlichen Vorstellungen und politischen Einstellungen der Schreibenden, wird das Ausmaß der Verfolgung und Vernichtung und die menschenverachtende nationalsozialistische Rassenideologie ein weiteres Mal durch historische Quellen belegt. Die Umstände im Ghetto werden durch die Postkarten greifbar und sie sind letztes Zeugnis der bald darauf deportierten, verstorbenen oder verschollenen Menschen.

Die Schilderungen der Nachkommen, Ohla Kucher und Wiktoria B. Strelkowskaja aus Kiew veranschaulichten auf eindrucksvolle Weise den gegenwärtigen Erinnerungswert der den Dokumenten auch nach all den Jahren noch innewohnt. Die Briefe sind private Zeitzeugnisse und gleichwohl Teil einer sich im Wandel befindenden gesellschaftlichen Gedächtniskultur in den ehemals durch die Wehrmacht besetzten Gebieten.

Im Rahmen der öffentlichen Ausstellung im Nationalmuseum Kiew entstand 2012 ein Begleitkatalog in ukrainischer Sprache, in dem neben der Abbildungen und Transkriptionen der Briefe, auch auf die Forschungsaspekte und Restitutionen, eigegangen wird.

Die Rückgabe von enteigneten Artefakten ist im Rahmen der moralischen Verantwortung gegenüber den Hinterbliebenen Eigentümer_innen selbstverständlich. Weitere gesellschaftshistorische Forschungskontexte können allerdings meist nur mit Hilfe und Unterstützung der Erb_innen bearbeitet und aufzeigt werden. Dies ist, bei den besagten Schriftstücken die größtenteils in Kiew in der Ausstellung des „Nationalmuseums der Geschichte der Ukraine im Zweiten Weltkrieges“ zu sehen sind zwar auf regionaler Ebene gegeben, jedoch wäre eine breitere wissenschaftliche Bearbeitung wünschenswert. Diese Anliegen vertritt auch Jörg Moree´  (Deutsch-Russisches Museum Berlin). Dem schließt sich die Provenienzforscherin Gabriele Anderl (Wien) insofern an als dass, Sie über den derzeitigen Forschungsstand der ebenfalls 2009 zurückgegebenen Kleidung, keine weiteren Kenntnisse hat. Wiktoria Soloschenko (Nationale Akademie der Wissenschaft der Ukraine, Kiew) zeigte in Ihrem Beitrag die Komplexität der Internationalen Rückgabevorgaben und Forderungen seitens der unterschiedlichen Akteur_innen auf. Dies spiegelte sich auch in den Fragen und angeregten Diskussionen um unterschiedliche Erinnerungsnarrative wieder. Letztendlich wird sowohl von den ukrainischen, als auch von den deutschen und österreichischen beteiligten Wissenschaftler_innen eine Zusammenarbeit als wichtige Ergänzung der lokalen und globalen Wissensbestände angesehen. Eine weitere Vernetzung, sowie konkrete Projektfortführungen wurden von allen Anwesenden begrüßt. Vorstellbar ist eine gemeinsame englisch/deutsch Übersetzung des Katalogs aus Kiew, das Anlegen einer mehrsprachigen Datenbank der Briefe und eine internationale Konferenz zu Raubgut und Restitutionen in Kiew.

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